Geschichte
Das unheilige Reich preußischer Nation |
Geschrieben von (pm) am 25.01.2011 |
Das Gemälde Anton von Werners zeigt die Proklamation des preußischen Königs zu Kaiser Wilhelm I. am 18.01.1871 im Spiegelsaal von Versailles. Die zentrale Figur der Proklamation ist der preußische Ministerpräsident Otto von Bismarck (in weißer Uniform) in der Mitte des Gemäldes.
Am Anfang des gefährlichen Weges zur Reichsgründung vom 18. Januar 1871 schrieb der preußische Ministerpräsident Otto von Bismarck sieben Jahre vorher, im Januar 1864, seinem Kriegsminister Albrecht von Roon: „Ohne Gottes Wunder ist das Spiel verloren, und auf uns wird die Schuld von Mit- und Nachwelt geworfen. Wie Gott will. Er wird wissen, wie lange Preußen bestehen soll.“ Später, nach dem Triumph von Blut und Eisen, kleidete der gefeierte Staatsmann seine Fortune in die berühmten Worte: „Man kann nur abwarten, bis man den Schritt Gottes durch die Ereignisse hallen hört, dann vorspringen, um den Zipfel seines Mantels zu erfassen.“
Der Berliner Regierungschef riskierte drei Kriege mitten in Europa, um zu seinem großen Ziel, dem kleindeutschen Kaiserreich unter den Hohenzollern, zu gelangen: 1864 gegen Dänemark, anschließend 1866 gegen Österreich und kurz darauf 1870 gegen Frankreich. Rückschauend verglich sich der Reichsgründer selbst gern mit einem Wanderer im Wald, der zwar die Richtung seines Marsches kennt, aber nicht den Punkt, an dem er aus dem Forst heraustreten wird. „Ich hätte jede Lösung mit Freuden ergriffen, welche uns ohne Krieg der Vergrößerung Preußens und der Einheit Deutschlands zuführte“, behauptete Bismarck.
Die nationale Geschichtsschreibung folgte ihm begeistert, aber schon damals spottete ein kluger Beobachter wie der Basler Historiker Jacob Burckhardt über all jene Druckwerke, die entsprechend dem Zeitgeist eng begrenzt Germanias Glanz und Preußens Gloria verherrlichten: „Man wird einige Jahre warten müssen mit Anschaffungen, bis die ganze Weltgeschichte von Adam an siegesdeutsch angestrichen und auf 1870 bis 1871 hin orientiert sein wird“, formulierte Burckhardt in einem Brief an einen Freund. Borussias Fanfaren haben sogar die Bitterkeit und Enttäuschung über die nicht weniger wichtige Wende von 1866 lange übertönt. Bismarck, damals der bestgehasste Mann vor allem südlich der Mainlinie, führte diesen Waffengang gegen Österreich und dessen Verbündete, darunter Bayern, Sachsen und Hannover, ebenso entschlossen wie umsichtig herbei. Erklärtes Ziel des Expansionskurses war, „die Grenzpfähle da einzuschlagen, wo die evangelische Religion aufhört zu überwiegen“.
Bismarck hielt den Krieg für notwendig, um den von Friedrich dem Großen erhobenen Führungsanspruch in Deutschland durchzusetzen. Die protestantische Dynastie der Hohenzollern forderte den Kaiser des katholischen Hauses Habsburg heraus. Bei Königgrätz in Böhmen, in der größten Schlacht des 19. Jahrhunderts, erlitt die Donaumonarchie eine verheerende Niederlage. „Casca il mondo! (die Welt stürzt ein)“, meinte erschrocken der Staatssekretär des Papstes, Kardinal Giacomo Antonelli, als in Rom die Nachricht vom Ausgang des Duells eintraf.
Der Frieden von Prag schloss die Österreicher aus dem Verband der Deutschen aus. „Ihr glaubt, ihr habt ein Reich geboren, und habt doch nur ein Volk zerstört“, klagte zeitgenössisch der Wiener Dichter Franz Grillparzer. Der Münchener Historiker Thomas Nipperdey hat Ende des 20. Jahrhunderts die Dimension dieser Entscheidung wieder entdeckt: „Das Gefühl der Trauer über diesen tragischen Weg der deutschen Geschichte kann einen bis heute ergreifen.“
Bismarck gründete zunächst den Norddeutschen Bund mit 23 Staaten nördlich des Mains. Von insgesamt 30 Millionen Einwohnern waren allein 25 Millionen preußische Untertanen. Berlin wurde Hauptstadt, nicht mehr Frankfurt, bisher Sitz des Deutschen Bundes, oder Wien, die Kapitale des Alten Reichs. Das katholisch-süddeutsche Element werde sich von Berlin aus „noch für lange Zeit nicht gutwillig regieren lassen“, glaubte Bismarck, den sein preußischer König Wilhelm I. zum Kanzler des Norddeutschen Bundes ernannte. Nicht nur in Bayern verteidigte eine antiborussische Bewegung, getragen von großdeutschen Demokraten, Katholiken und konservativen Partikularisten, die Eigenständigkeit.
Bismarck aber erkannte, dass ein national aufgeladener Konflikt mit Frankreich die Hindernisse auf dem Pfad zum Nationalstaat beiseite räumen würde. Umstritten ist bis heute, in welchem Umfang er die Krise um die spanische Thronkandidatur eines Hohenzollernprinzen anheizte und zum Krieg drängte. Jedenfalls äußerte er intern, die rechte Kaiserkrone werde auf dem Schlachtfeld erworben.
Mit der legendären „Emser Depesche“ gelang es ihm, der Regierung Napoleons III. die Rolle des Aggressors zuzuspielen. So mobilisierte der Abwehrkampf gegen den sogenannten „Erbfeind“, wie einst die Befreiungskriege gegen Napoleon I., das deutsche Nationalgefühl. Diesseits und jenseits der Mainlinie schlugen die patriotischen Wellen hoch, besonders nach den ersten gemeinsamen Siegen preußischer und süddeutscher Truppen in den Grenzgefechten des August 1870.
Am 1. September gewann Generalstabschef Helmuth von Moltke bei Sedan an der Maas die entscheidende Schlacht. Bismarck brachte die Einheitspläne unter Dach und Fach. Endlich kam am 23. November auch der Vertrag mit Bayern zustande. Das Königreich rettete einige Sonderrechte, darunter die eigene Gesandtschaft beim Vatikan sowie die Bier- und Branntweinsteuer. „Ich wollte sie nicht pressen, die Situation nicht ausnutzen. Der Vertrag hat seine Mängel, aber er ist so fester“, berücksichtigte Bismarck klug die föderalen Traditionen. Mit List und Geschick schmiedete er zusammen, was auch wirtschaftlich zusammengehörte.
Am 18. Januar 1871 schlug im Spiegelsaal von Versailles, mitten im Herzen Frankreichs, die Geburtsstunde des Deutschen Reiches. Vor einer uniformierten Versammlung proklamierte der Großherzog von Baden in einem kurzen Akt Wilhelm I. zum Kaiser. Doch das neue Machtzentrum auf dem Kontinent war nicht von Freunden umgeben, anders als das wiedervereinigte Deutschland heute. Preußens Hybris und die Annexion Elsass-Lothringens schürten Ängste im Ausland. Der konservative Brite Benjamin Disraeli sah das Gleichgewicht der Kräfte zerstört: „Dieser Krieg bedeutet die deutsche Revolution, ein größeres politisches Ereignis als die Französische Revolution des vergangenen Jahrhunderts.“
Während Bismarck als Reichkanzler nach außen auf eine Sicherheits- und Friedenspolitik einschwenkte, misslang die innere Einheit. Der Adel blieb privilegiert. Politisch dominierte der Nationalliberalismus. Andersdenkende verdächtigte man als „Reichsfeinde“, allen voran das katholische Volksdrittel. Der erbittert geführte „Kulturkampf“ gegen den Katholizismus erschütterte vor allem Preußen zutiefst. Ein Strom von Gottlosigkeit und Unglauben ergieße sich von Berlin und Varzin, dem Gut des Fürsten Bismarck in Pommern, über das neue deutsche Reich, kritisierte sogar dessen ehemaliger Weggefährte Ludwig von Gerlach, ein protestantischer Altkonservativer: „Ich hoffe es noch zu erleben, dass das Narrenschiff der Zeit an dem Felsen der christlichen Kirche scheitert.“
Als Vertreter der konfessionellen Minderheit entstand das Zentrum, das sich unter seinem genialen Anführer Ludwig Windthorst zur Verfassungspartei entwickelte. Den Gegnern galt es allerdings als undeutsch und „ultramontan“, das heißt von der römischen Kurie gelenkt. Allen Ernstes ließ die Regierung prüfen, ob sie anstelle des „Oberpriesters“ auf dem Heiligen Stuhl nicht vielleicht einen gefügigen „preußischen oder deutschen Papst“ installieren könnte.
„Setzen wir Deutschland, sozusagen, in den Sattel! Reiten wird es schon können“, hatte Bismarck vor der Reichsgründung verkündet. Später äußerte der Junker skeptisch, dieses Volk könne nicht reiten. Ohne ihn wäre sicherlich alles anders gekommen. Wie, darüber mag man spekulieren. „Ohne mich“, so lautete seine eigene Bilanz, „hätte es drei große Kriege nicht gegeben, wären 80 000 Menschen nicht umgekommen, und Eltern, Schwestern, Witwen trauerten nicht. Das habe ich indes mit Gott angemacht.“ Der Stern Preußens sollte in den Katastrophen des 20. Jahrhunderts verglühen. Das wilhelminische Kaisertum erlosch bereits 1918, gerade einmal zwei Jahrzehnte nach dem Tod seines Begründers Bismarck. Der Nationalstaat versank 1945, nach nur 74 Jahren, in Schutt und Schande. Ohne Bedauern, erfüllt vom Zorn über die apokalyptische Barbarei des Nationalsozialismus, schrieb Thomas Mann im Exil gleichsam den ersten Nachruf: „Durch Kriege entstanden, konnte das unheilige Reich preußischer Nation immer nur ein Kriegsreich sein. Als solches hat es, ein Pfahl im Fleische der Welt, gelebt, und als solches geht es zugrunde.“
Letzte Änderung: 19.05.2011 um 07:46
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