Betrachtungen

Leidensbetrachtungen 66 - 70

Geschrieben von (ksf) am 22.09.2012
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Nr. 66

Punkt VIII - Nicht weniger als an seinem Leibe, wollte Jesus an seiner ganzen Seele leiden und zwar nicht nur im niederen Teil des Gefühls, sondern auch im oberen, der im Verstand seinen Sitz hat. Obwohl sein Geist durch die göttliche Anschauung beseligt war, fand er dennoch das wunderbare Mittel, um in eben diesem Geiste die größte Freude der Herrlichkeit mit dem größten Schmerz zu vereinen, der für ihn aus der Betrachtung und Verabscheuung aller Sünden hervorging. Zwar hatte er von diesen während seines ganzen Lebens eine klare Erkenntnis, aber deren ganze Bosheit betrachtete er besonders im Ölgarten.

Betrachtung - Da Jesus Christus bei seiner Menschwerdung die Gestalt nicht nur eines, sondern aller Menschen angenommen hat, versenkt er sich hier im Ölgarten in die Armseligkeit aller Adamskinder. Er vergegenwärtigt sich alle Sünden der Welt, die seit Adam bis zu jener Zeit begangen worden sind und die bis zum Ende der Welt noch begangen werden. Er sieht sie alle in seinem Geiste, nicht nur oberflächlich wie wir, sondern klar und deutlich nach ihrer Zahl und Art, nach den Umständen und Stufen der Bosheit, als sähe er jeden Sünder wirklich dort im Garten vor seinen Augen sündigen. O Himmel! Was für eine qualvolle Betrachtung für den Herrn! Mit Recht kann er mit dem Propheten klagen, dass die Ströme der Bosheit ihn erschreckt haben. Und wir können mit ihm seufzen, dass die Bitterkeit seines Herzens einem Meer gleicht, in das alle Ströme sich ergießen. Ich will jedoch an mich selbst denken, ohne mich in die Betrachtung fremder Sünden zu verlieren. Jesus Christus hat alle Sünden meiner Gedanken, Worte und Werke vor Augen. Alle, die ich seit dem ersten Gebrauch der Vernunft bei Tag und Nacht, allein und mit anderen begangen habe. Er sieht sie in ihrer Anzahl, Art und Hässlichkeit. Weil er gleichzeitig sieht, dass ich keinerlei Reue darüber empfinde, überlässt er sich bei diesem schrecklichen Anblick einer tödlichen Traurigkeit.

Zwiegespräch - O mein Jesus, welch großes Übel muss die Sünde sein, da schon allein ihre Vorstellung ausreicht, deinen in seiner Herrlichkeit überseligen Geist zu ängstigen und zu betrüben. Wie schmerzt es mich, mit meinen Sünden deine Geistesfreude verbittert zu haben! Ach könnte ich doch deiner Ohnmacht eine Erleichterung verschaffen! Aber ja, ich vermag es, dank der Gnaden, die du mir verdient hast. Deshalb bitte ich dich durch deine Verdienste um eine dieser Gnaden. Teile meiner Seele etwas von jener Traurigkeit mit, die du über meine Sünden empfindest, und ich bin sicher, dass ich dir als reumütiger Sünder ebenso gefalle und dich ebenso erfreue, wie ich dich im Zustand der Sünde betrübt habe.

Vorsatz - Ich will öfter Reue erwecken und den Herrn bitten, mir einen wahren Hass gegen die Todsünde einzuflößen, so dass ich die Gefahren und Gelegenheiten sorgfältig meide und sogar ihren Schatten fliehe.

 

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Nr. 67

Punkt IX - Jesus Christus sieht im Garten alle vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Sünden der Welt. Er sieht sie nicht mit einer oberflächlichen Erkenntnis, sondern im Lichte einer unbegrenzten Einsicht. Diese ist umfassender als jene, die alle Engel und Menschen zugleich besitzen und zu besitzen fähig sind. Er durchschaut das Übel und die Bosheit bis auf den Grund. Da in ihm alle Schätze der Weisheit und Wissenschaft verborgen sind, und die Fülle der Gottheit in ihm wohnt, weiß er vollkommen, was die Todsünde ist. Zwischen seinem und unserem Wissen besteht ein unendlich großer Unterschied. Auch wir wissen, dass die Sünde eine schwere Beleidigung Gottes ist. Weil wir aber Gott nur im Dunkel des Glaubens erkennen, haben wir auch nur eine dunkle Erkenntnis von der Sünde.

Betrachtung - Jesus Christus sieht und erkennt mit seinem Geist die unbegrenzte Güte und Majestät Gottes. Daher besitzt er auch vollkommene Einsicht in die unermessliche Bosheit und Schwere jeder Todsünde, wodurch die unendliche Hoheit Gottes beleidigt wird. Diese Einsicht verursacht ihm eine so schmerzliche Betrübnis und Bestürzung, dass es unmöglich ist, sie zu begreifen oder auszudrücken. Wenn mir der Satan in seiner fürchterlichen Hässlichkeit sichtbar erschiene, würde mich zweifelsohne Furcht, Angstschweiß und Ohnmacht befallen. Was sind aber alle Teufel der Hölle im Vergleich zur schrecklichen Hässlichkeit einer einzigen Todsünde? Wie wird daher dem Herrn Jesus Christus zu Mute sein, da sich ihm Millionen der abscheulichsten Sünden darstellen, deren Schrecklichkeit er in ihrem ganzen Ausmaß sieht? Wenn der Gedanke an das Kreuz, das doch das Heilmittel allen Übels ist, ihn so tief betrübte, wie groß wird seine Betrübnis beim Anblick so vieler und großer Übel sein?

Zwiegespräch - Heiligste Seele meines Jesus, wenn auch meine Augen sich in zwei Tränenquellen verwandelten, wie vermöchte ich es, dich würdig zu bemitleiden? Ich ersetze das Mitleid durch die Bewunderung. Da ich dir im Ölgarten gegenwärtig war und du mein mit unzähligen Sünden beflecktes Gewissen anblicktest, wie konntest du mich ertragen? Wie konntest du mich lieben bei der Wahrnehmung meiner vielen Ausschweifungen? O unendliche Barmherzigkeit! Woher kommt es, dass die Betrachtung meiner Sünden, die dich mit solcher Betrübnis erfüllte, mich ungerührt lässt? Ich ergründe das Übel der Sünden nicht, jedoch erkenne ich wenigstens, dass ich sie nicht hätte begehen sollen. Ich wünsche, von ihnen eine Kenntnis zu haben, die mich zur Reue bewegt. Ach, lasse mich die Schwere meiner Bosheit erkennen und fühlen, denn nie werde ich von Herzen sagen können: „Erbarme dich meiner o Gott“, wenn ich nicht auch sagen kann: „Ich erkenne meine Missetat.“

Vorsatz - Das Leiden Jesu Christi kann mir vor allem Licht zur Erkenntnis meiner Sünden geben und mich bewegen, sie zu verabscheuen. Darum werde ich es täglich andächtig betrachten. Nichts kann für mich heilsamer sein.

 

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Nr. 68

Punkt X - Jesus Christus ist betrübt wegen den Sünden der Welt, jedoch am meisten schmerzen ihn die Sünden des Volkes Israel, weil es sein auserwähltes Volk ist. Auf dieses richtet er mit großer Huld seinen Blick und liebt es besonders, so dass es ihm gefällt, sich selbst den Gott und Heiland dieses Volkes zu nennen. Was muss er wohl fühlen, wenn er an dieses Volk denkt, wie es seine Erbarmungen mit so großem Undank und seine Wohltaten mit so vielen Sünden erwidert? Es bereitet ihm Stricke und Ketten, um ihn zu binden und zu kreuzigen, obwohl er doch vom Himmel auf die Erde gekommen ist, um sein ewiges Heil zu wirken. Die Missetaten des Volkes Israel waren weit schwerer als jene anderer Völker. Wie viel größere Qual werden sie daher dem Herzen Jesu verursacht haben?

Betrachtung - Wenn aber wir Christen vor Jesus bekennen müssen, dass wir noch weit mehr sein auserwähltes, besonders geliebtes Volk sind, so müssen wir auch überzeugt sein, dass unsere Sünden ihn noch tiefer kränken. Die Sünde eines Christen, der sich zur Religion des wahren Gottes bekennt, ist gewiss weit schwerer als die eines Ungläubigen. Selbst die heiligen Geheimnisse und Sakramente lassen die Sünde schwerer wiegen, denn die Bosheit ist um so grässlicher, je stärker die Verpflichtung ist, nach Heiligkeit des Lebens zu trachten. Es besteht daher kein Zweifel, dass die Sünde eines Christen, der Jesus Christus als Gottmenschen erkennt und ihn dennoch beleidigt, ein größerer Frevel ist, als das Verbrechen der Juden, die ihn nur für einen gewöhnlichen Menschen hielten. Mit Recht beklagt sich deshalb der Heiland weit mehr über die Christen, die ein schlechtes Leben führen, als über die treulosen Juden. Ich will mein Augenmerk auf mich richten und diese Tatsache auf mich anwenden.

Zwiegespräch - O mein süßester Heiland, wenn ich meinen Zustand betrachte und mein Gewissen erforsche, muss ich befürchten, dass es unter allen Sündern, die du im Ölgarten vor Augen hattest, keinen gibt, der dich mehr als ich betrübt hat. Da ich ungeachtet so vieler Erleuchtungen, Gunstbezeugungen und Gnadenhilfen, die du mir verliehen hast, dich dennoch beleidigt habe, weiß ich wirklich nicht, wer boshafter und undankbarer sein könnte als ich. Die Sünden der Juden und Ungläubigen sind nicht so schwer wie meine, ich bin schlechter als sie. Sie finden in der Unwissenheit Entschuldigung, ich aber habe den Glauben, der meiner Schuld keine Ausflüchte lässt. Die Juden verfuhren grausam gegen deinen Leib, ich aber habe noch grausamer deine Seele durchbohrt. Ich kann hierzu nur sagen, o mein Gott, dass mich Schmerz und Reue über mein so boshaftes Leben erfüllt. Wie schmerzt es mich, dass ich mich wegen jeder Widerwärtigkeit, die mir begegnet, so leicht betrübe. Dagegen bringe ich es aber nicht fertig, mich in würdige und heilige Trauer zu versenken, um meine Sünden wahrhaft zu bereuen und deine Schmerzen würdig zu bemitleiden. Ach erzeige, o gütigster Jesus, die Größe deiner Barmherzigkeit mir armen Sünder, der ich unter allen der unwürdigste bin, und mache mich teilhaftig deiner Gnaden.

Vorsatz - Das Glück, dass ich ein Christ bin, fordert mich dringend auf, meine Sünden zu bereuen. O welch ein Übel ist es, in der heiligen Kirche mit so unschätzbaren Wohltaten überhäuft zu werden, und dafür Gott, dem Herrn, unermesslichen Undank entgegenzubringen!

 

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Nr. 69

Punkt XI - Das Innere Jesu Christi ist ein ehrwürdiges Heiligtum, in das wir nicht einzudringen vermögen. Obwohl es unsere Begriffe übersteigt, wie seine Seele leiden konnte, da sie mit der Gottheit vereinigt war, so irren wir nicht, wenn wir glauben, dass seine Gottheit durch ein Wunder bewirkt hat, dass seine Menschheit leiden konnte, und dass sie darüber hinaus noch dazu beigetragen hat, ihr Leiden zu vermehren.

Betrachtung - Es ist ein Wunder, dass sich Jesus Christus, von so furchtbaren Todesschmerzen bedrängt, am Leben erhält. Es ist ein Wunder, dass er sich gleichzeitig im Zustand der irdischen Wanderung und der himmlischen Verklärung befindet, und dass folglich sein Geist einerseits selig durch den Genuss der Glorie ist und andererseits gequält wird durch Trauer und Schmerz, die ihn niederbeugen. Eben dieses verdient unsere höchste Bewunderung. Die Seele Jesu Christi erkennt wegen der persönlichen Vereinigung mit der Gottheit um so klarer all das, was sie in Trauer zu versetzen vermag. Darum steigert sich ihre Betrübnis nach dem Maß dieser Erkenntnis. Weil nun aber ihre tiefe Erkenntnis in ihr den tiefsten Schmerz erzeugt, und weil daher die Menschheit Christi in ihrer äußersten Betrübnis dem übermäßigen Leiden erliegen müsste, wird sie von der Gottheit gestärkt, um es ertragen zu können. Wenn uns ein Leiden drückt, so stärkt der Gedanke an Gott unseren Mut. Wir wissen, dass die heiligen Märtyrer in ihren Qualen frohlockten, weil die Gnade sie mit inneren Tröstungen erfüllte und siegreich über alle Qualen erhob. Aber im Leiden Christi lässt seine Gottheit nicht nur keinen Tropfen Freude auf seine Menschheit fallen, um die Bitterkeiten zu versüßen, sondern sie trägt dazu bei, sie zu vergrößern. Ich will den Grund suchen, weshalb Jesus Christus als Gott mitwirkt, sein Leiden zu vermehren, und warum er es so fügt, dass er keinerlei Linderung erfährt. Er leidet, um für die Sünde genugzutun, und da die Sünde ein Übel ist, das wirklich als Übel bezeichnet werden kann, muss ihr eine angemessene Strafe entsprechen, die in einem reinen und wahren Schmerz besteht. Deshalb werden auch die körperlichen und geistigen Leiden des Heilandes mit den Qualen der Hölle verglichen, da sie aufs Höchste gesteigerte reine Leiden sind und jedes Mittel einer Linderung ausschließen.

Zwiegespräch - O welch großes Übel ist die Sünde! Und doch, wie oft habe ich sie begangen, als wäre sie etwas Unwichtiges! Wäre ich auch nur einer einzigen Todsünde schuldig, so müsste ich meinerseits verzweifeln, denn wie könnte ich dir, o Gott, für ein so großes Übel Genugtuung leisten? Jedoch sei mir die Verzweiflung fern! Habe Dank für deine Güte, o ewiger Vater, denn, da dein Mensch gewordener Sohn für mich Genugtuung geleistet hat, setze ich auf ihn mein Vertrauen. O Jesus, voll Elend, aber noch mehr voll Erbarmen! Doch das Elend gehört mir, dir steht das Erbarmen zu. Wie weit aber übertrifft dein Erbarmen die Größe meines Elendes!

Vorsatz - Ich fasse den festen Vorsatz, eher jedes Übel auf mich zu nehmen oder zu erleiden, als nur eine einzige Todsünde zu begehen, denn außer der Sünde gibt es nichts, was den Namen eines Übels verdient.

 

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Nr. 70

Punkt XII - Nicht nur in seinem Geiste sieht Jesus Christus im Ölgarten die Sünden der ganzen Welt, sondern er nimmt als Erlöser des ganzen Menschengeschlechtes die Sünden aller Nationen, der Juden, der Heiden und der schlechten Christen auf sich. Er lädt sie sich auf, um ihre schwere Schuld zu tragen, indem er sie sich gewissermaßen selbst zueignet, als wären es seine eigenen, persönlichen, von ihm begangenen Sünden. Was muss er also fühlen bei einer ganzen Welt voll Missetaten, zu denen wir leider auch die unsrigen rechnen müssen. Wie groß müssen wir uns seine Beklemmung und Niedergeschlagenheit vorstellen, da er sich von einem so grenzenlosen, so schmerzlich drückenden Gewicht beladen fühlt?

Betrachtung - Betrachte die heiligste Seele Jesu, die nie gesündigt hat, nie sündigen konnte und gegen jede Sünde den äußersten Abscheu trägt! In welche Angst und Qual wird die Schwere so vieler fremder Sünden ohne Maß und Zahl sie versenken? Wie groß wird die Pein dieser demütigsten Seele sein unter so vielen Werken des Stolzes, dieser reinsten Seele unter so vielen Begierlichkeiten, dieser heiligsten und in Liebe zum Vater entflammten Seele unter so vielen unsagbaren Verbrechen, Empörungen und Beleidigungen gegen Gott? Wer vermag sich vorzustellen, in welchem Zustand sich das Innere seiner unschuldigen menschlichen Seele befindet, die sich selbst, ob so vieler Sünden, schuldig fühlt und dafür die Strafe erleiden muss. Es gibt zwar keinen angemessenen Vergleich, um dies anschaulich zu machen, wir wollen es aber trotzdem versuchen. Welch bitteres Herzeleid muss es für Jesus sein, da er sieht, wie die vielen fremden Sünden, an denen er keine Schuld trägt, ihm aufgebürdet sind? Zwar könnte er sich damit trösten, dass ihm alles nach seinem eigenen Willen geschieht, jedoch weist er diesen Trost von sich, damit sein Leiden rein, unbeschränkt groß und dem Übel der Sünden, für die er Genugtuung zu leisten hat, angemessen ist.

Zwiegespräch - Ich glaube es, o mein betrübter Heiland, obwohl ich nur mit heiligem Schauder daran denken kann, dass du alle meine Sünden auf dich genommen hast, um der göttlichen Gerechtigkeit für mich Genugtuung zu leisten. Du hast auf dich all meine Drangsale geladen, um mir deine Seligkeit dafür zu schenken. Du hast meine Vergehen gleichsam zu den deinen gemacht, um mir deine Heiligkeit zu vermitteln. O wie sehr bin ich dir verbunden, und wie streng bin ich verpflichtet, deinen reinen Schmerz mit reiner Liebe zu vergelten! O wie viel schulde ich dir für deine unbegreifliche Güte und für deine so tiefe Demut, da du nicht nur Mensch geworden und die menschlichen Schwächen angenommen hast, sondern sogar in der Gestalt eines Sünders erscheinen wolltest! Ach, durch die Verdienste dieser Demut entferne von mir allen Stolz und lass nicht zu, dass mich dieses Laster je beherrscht, da es die eigentliche Ursache deines Leidens ist.

Vorsatz - Nach dem Beispiel Jesu Christi, der über fremde Sünden trauert, werde ich meine eigenen Missetaten bereuen. So wie er sich verdemütigt hat, indem er wegen den Verbrechen anderer, als Sünder erscheinen wollte, werde auch ich in Anbetracht meiner Vergehen nie vergessen, dass ich ein armer Sünder bin.


Letzte Änderung: 23.09.2012 um 21:49

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